Krisen-Kompetenz

Welche Vorraussetzungen braucht man, um eine Krise zu überwinden?

Eine Krise ist immer ein Umschlagspunkt, an dem sich entscheidet, wie das Leben weiter geht. Entweder man bewältigt die Krise, oder man scheitert an ihr, was in den meisten Fällen Suizid oder Suizidversuch bedeutet. Oft werden auch andere Verhaltensstrategien gewählt, die eine Krise versuchen zu umgehen, was aber normalerweise nur eine Verschiebung des Problems bedeutet. Als Beispiel für solche Ausflüchte sind Entwicklung einer Sucht (Alkohol, Drogen, Tabletten etc.), Aggression oder Selbstbemitleidung und die Ausbildung einer psychosomatischen Krankheit, wie bereits erwähnt.

Eine interessante Fragestellung, die auch in der Forschung noch nicht eindeutig geklärt ist, lautet: Welche Faktoren beeinflussen, ob wir in der Lage sind eine Krise zu überwinden? Sind es Dispositionen oder situative Einflüsse? Wie entwickeln sich Persönlichkeitsmerkmale, in denen sich Menschen unterscheiden, die das Bewältigen ermöglichen? Gibt es genetische Veranlagungen? In der differentiellen Psychologie interessiert vor allem, wie sich Menschen in ihrer Bewältigungskompetenz unterscheiden und wie es zu diesen Unterschieden kommt.

Zu diesen Forschungsfragen wurden einige Studien durchgeführt, unter anderem die Bielefelder Studie zum Thema Resilienz (Zit. Schöneberg, B 2003). Dieser Begriff bezeichnet die psychische Widerstandsfähigkeit, Lebenskrisen ohne lebenslängliche Beeinträchtigungen zu bewältigen, wird jedoch in der Fachliteratur kaum verwendet. Zimbardo und Gerrig (Psychologie, Auflage 7, 1999) und Hilgard verzeichnen zu dem Begriff „Resilienz“ keine Einträge. Auch Oerter und Montada (2002) erwähnen das Konzept Resilienz nur am Rande im Bezug auf Coping (Bewältigungsverhalten) und primäre Prävention von Lebenskrisen. James Block definiert Resilienz als ein Persönlichkeitsmerkmal, welches sich aus dem Zusammenspiel von genetischen, biologischen und sozialen Faktoren entwickelt. Man nimmt an, dass das soziale Umfeld überwiegend ausschlaggebend ist, da aber die Umwelt auf die genetischen Veranlagungen eines jeden, sowie auf Behinderungen, Verhaltensstörungen, hormonelle Unterschiede und andere biologische Faktoren reagiert, spielen auch diese Faktoren eine große Rolle.

In der Bielefelder Studie zur Resilienz von Lösel, Bliesener und Köferl 1989/90 wurden Jugendliche zwischen 14 und 17 Jahren aus Heimen im Nordwestdeutschen Raum untersucht, die entweder nach Befragung der Erzieher als resilient galten oder psychische Störungen aufzeigten, obwohl sie vergleichbaren Risikofaktoren ausgesetzt waren. Davon, dass diese Jugendlichen unter dem Einfluss dieser Risikofaktoren aufwuchsen, ging man aus, da man die Versuchspersonen aus Heimen bezog und sie daher ohne Eltern aufwuchsen. Ziel dieser Studie war es, die Einflussgrößen des Begriffs Resilienz zu überprüfen und nach Mustern im Bewältigungsverhalten der resilienteren Jugendlichen zu suchen. Untersucht wurden nun die biografischen Belastungen, denen jeder Teilnehmer in seinem Leben ausgesetzt war, die psychische Gesundheit, personale Ressourcen wie Intelligenz, Temperament, Selbsteinschätzung und Copingstrategien und die sozialen Ressourcen z.B. soziale Unterstützung.

Eine weitere Studie zur Resilienz war die Kauai-Studie, eine Langzeitstudie, die über 40 Jahre die Entwicklung von 700 Kindern, die unter Stressfaktoren aufwuchsen, auf der Insel Hawaii untersuchte. Man stellte eine Reihe von Schutzfaktoren fest, die weitläufig mit den Merkmalen eines als resilient geltenden Menschen über einstimmen, und beobachtete Risikofaktoren, die die Bewältigung von Krisen gefährden.

Zusammenfassend aus verschiedenen Resilienzkonzepten und diesen Studien kann man eine Reihe von Schutzfaktoren anführen, die zu einem günstigen Bewältigungsverhalten in Krisensituationen führen, bzw. die Fähigkeit der erfolgreichen Krisenbewältigung erhöhen:

– eine positive frühkindliche Entwicklung, durch die Bindung und dem Vertrauen zu einer festen Bezugsperson, auf die man sich verlassen kann. (Urvertrauen)
– eine realistische Selbsteinschätzung und Wahrnehmung der Realität, inbegriffen der Bewertung und Analyse von Situationen
– ein positives Selbstkonzept (Humor und ein optimistischer Attributionsstil, s.u.)
– intellektuelle Fähigkeiten und Kreativität
– soziale Kompetenzen
– die Fähigkeit, sich Hilfe zu holen und sich jemandem anzuvertrauen
– Problemlösefähigkeit und Flexibilität
– die Fähigkeit, vorausschauend zu handeln
– ein unterstützendes soziales Umfeld.
– Fähigkeit zur angemessenen Problemanalyse

Oft wird im Bezug auf resiliente Menschen auch der Glaube an einen höheren Sinn oder eine höhere Macht als Merkmal genannt.
Weniger resiliente Menschen neigen dazu, Probleme zu verleugnen oder in Selbstmitleid und Zweifeln zu resignieren. Außerdem haben sie nicht das Verpflichtungsgefühl durchzuhalten.

Verena Kast (1989) geht nicht näher auf dispositionale oder situative Variablen ein, die die Bewältigungskompetenz beeinflussen, sondern sagt, um ein Problem erfolgreich zu lösen, brauche man eine erhöhte Motivation. Ist diese Motivation nicht vorhanden, wird das Problem zur Krisensituation, in der es sich auf alle Lebensbereiche ausweitet. Durch diese starke Einengung und Zuspitzung, die als enormer Druck empfunden wird, muss sich der Betroffene notwendigerweise dem Problem stellen, was als Durchbruch bezeichnet wird.
Die Vorraussetzung, eine Krise in den Griff zu bekommen, sind, nach Verena Kast (1989), der extreme Leidensdruck oder die nötige Motivation, sich mit sich selbst Auseinanderzusetzen.

Aufgrund meiner Beobachtungen an mir selbst und dem Studieren der Fallbeispiele, die ich in dieser Hausarbeit erläutern werde, bin ich zu der Überzeugung gekommen, dass ein weiteres wichtiges Merkmal, zur Erhöhung der Chancen der Bewältigung einer Krise, ein starker Wille und vor allem Geduld und Durchhaltevermögen sind. Oft kommt man während des Prozesses der Krisenbewältigung zu Tiefpunkten, in denen man verzweifelt und glaubt, sich im Kreise zu drehen, nicht vorwärts zu kommen und genau dann muss man den Mut und die Disziplin aufbringen, weiter zu machen und nicht auf zu geben. Dieses „Nicht aufgeben, bevor man nicht am Ziel ist“ halte ich für ausschlaggebend. Grade in der vierten Phase, in der man sich wieder in das Leben integrieren muss, laufen viele Betroffene Gefahr, zu den alten Gewohnheiten zurück zukehren anstatt das durch die Krise Neugewonnene umzusetzen und für das weitere Leben zu nutzen.

Ein besonderer Fall der Krise liegt vor, wenn wir lebensbedrohlich erkrankt sind, da über dem psychischen Ungleichgewicht eine Krankheit liegt, die wir überleben, bekämpfen müssen. Bei meiner Recherche stieß ich auf einen Bericht mit Informationen über die Bewältigung von solchen lebensbedrohlichen Krankheiten aus eigener Kraft:

Nathalie Bureick (2004) berichtet von den Forschungen des Gesundheitsanthropologen Hiroshi Oda zur „Spontanremission“. Sieben Jahre beschäftigte sich der Japaner an der Heidelberger Universität mit außergewöhnlichen Heilungen von lebensbedrohlichen Krankheiten, die die Betreffenden aus eigener Kraft bewältigen konnten, obwohl es beinahe unmöglich schien, wie zum Beispiel Lance Armstrong und Anastacia, die an Krebs erkrankt waren, oder die Menschen, die jedes Jahr nach Lourdes, dem südfranzösischen Wallfahrtsort pilgern und danach wieder genesen. Ihn interessierten dabei die Eigenschaften, die die Geheilten gemeinsam haben. Im Laufe seiner Untersuchungen stellte er fest, dass alle Betroffenen die Fähigkeit hatten, folgende Ressourcen zu nutzen:

– soziale Unterstützung
– Zuversicht, Mut
– Positives Denken, Vertrauen
– Kein Einnehmen einer Opferrolle oder Anklagen einer bösartigen Welt
– Keine Resignation, keine Bitterkeit
– Fester Glaube an Heilung oder Gott

Diese Ressourcen stimmen zum großen Teil mit den oben genannten Faktoren überein und kann von Krisen bei schweren Krankheiten wahrscheinlich auf andere Krisen verallgemeinert werden.

Des Weiteren teilte der Forscher die Betroffenen in drei Kategorien ein, die aber nicht exakt voneinander abgegrenzt werden können.

1. Der Kämpfer:

Diese Patienten sind der Meinung, dass sie noch nicht sterben sollen und wollen und kämpfen gegen einen Feind an. Sie nutzen also ihren Ehrgeiz zu gewinnen und wehren sich mit allen Mitteln.

2. Die Gläubigen:

Diese Gruppe von Menschen, zu denen zum Beispiel die Pilgere gehören, sehen die Krankheit als eine Prüfung. Sie schöpfen die Kraft zur Genesung aus ihrem Glauben an Gott oder einem anderen tiefen Vertrauen zum Leben.

3. Die Umsteiger:

Dieser Typ Mensch fasst die Krankheit als ein Alarmsignal des Körpers, dass etwas nicht in Ordnung ist im Leben. Sie setzen sich bewusst mit sich Selbst und ihrer Lebensweise auseinander und ändern auf ihren Erkenntnissen aufbauend ihr Leben in dem sie zu sich selbst zurückfinden, sich harmonisieren.

An dieser Stelle möchte ich noch einmal näher auf die Attributionsprozesse eingehen, die ausschlaggebend dafür sind, wie wir eine Situation aufnehmen, verarbeiten und darauf reagieren. Ich halte die nähere Betrachtung unserer Kausal-Attributionen ( Fincham, Hewstone, 2003) für wichtig, da unsere Einschätzung und unser Verhalten in einer Krisensituation beeinflussen, wie wir mit einer Krise umgehen und damit auch, ob und wie wir sie bewältigen können. Die Unterschiedlichkeit, in der Menschen attribuiren und wie diese Kausalattributionsstile entstehen, ist ein weiterer Aspekt der differentiellen Psychologie.

Unser Attributionsstil beeinflusst unsere Motivation, Fähigkeit und Stimmung. Unter Attribution versteht man Ursachenzuschreibung. Unser Gehirn schreibt allen Objekten, die uns begegnen, allen Verhaltensweisen unseres sozialen Umfeldes und unseren eigenen Verhaltensresultaten bestimmte Ursachen zu, um die komplexe Welt um uns herum einzuordnen und verstehen zu können. Hierzu stellte Weiner (1970) ein dreidimensionales System der Ursachenzuschreibung auf, in dem er sagt, dass wir die Ereignisse in drei Ebenen einordnen:

a) Lokalität: intern (personal) vs. extern ( situativ)
b) Stabilität: stabil (invariant) vs. instabil (variabel)
c) Kontrollierbarkeit: kontrollierbar vs. unkontrollierbar

Diese drei Dimensionen lassen uns entweder mit einer externalen Kontrollüberzeugung oder einer internalen Kontrollüberzeugung auf unsere Umwelt reagieren und handeln. Wenn jemand in einer Krise steckt und die Situation als unkontrollierbar, stabil und intern beurteilt, wird er wenig motiviert sein, das Problem anzugehen, da er glaubt, er könne sowieso nichts ändern, weil er die Außenwelt als kontrollierend und bestimmend für sein Leben erlebt.

Jede Kombination der drei Dimensionen kann in Bezug auf Erfolg oder Misserfolg eine positive oder negative Auswirkung haben. Ein optimistischer Attributionsstil würde bedeuten, dass der Betreffende eigenen Erfolg als ein internes, kontrollierbares und stabiles Ereignis beurteilt, Misserfolg aber als situativ und variabel betrachtet. Diese positive Einstellung der Umwelt gegenüber ermöglicht in Krisensituationen eine höhere Motivation und Aktivität, sich mit sich und dem Problem auseinander zu setzen und erhöht damit die Chance der Bewältigung der Krise.

Wie oben geschildert, hat unsere Einschätzung der Situation einen wesentlichen Einfluss darauf, ob wir unsere Lage überhaupt als Krise empfinden oder nicht. Um eine Krise zu bewältigen, ist eine realistische Wahrnehmung und Attribuierung notwendig, um die eigene Lage und das Problem angemessen analysieren zu können.
Unsere Attributionen sind Teil der Grundlage für diese Einschätzung, was bedeutet, dass Menschen mit einem optimistischen Attributionsstil sich selbst seltener als in einer Krise befindlich betrachten.

Zusammengefasst heißt dies, dass Menschen, mit verschieden Attributionen Probleme unterschiedlich aufnehmen und damit umgehen und sich damit in ihrer Bewältigungskompetenz differenzieren.

Wie entsteht nun ein solcher Attributionsstil, der eines unserer Vorraussetzungen zum erfolgreichen Überstehen einer Krise darstellt?
Da man davon ausgehen kann, dass man nicht mit einem festgelegten Attributionsstil geboren wird, ist anzunehmen, dass die Art und Weise, seine Umwelt einzuschätzen, in der Kindheit durch verschiedene soziale Erfahrungen erlernt wird. Laut Krohne (1988) haben diese sozialen Erfahrungen als Konsequenz die unterschiedliche interindividuelle Ausbildung von drei Typen kognitiver Strukturen:

1. die Bewältigungskompetenz: die Fähigkeit, in bestimmten problematischen Situationen, (also Krisen) ein spezifisches Bewältigungsverhalten zeigen zu können, dass ein erfolgreiches Überwinden der Schwierigkeiten gewährleistet

2. die Konsequenzerwartungen: die Erwartungen, die man hinsichtlich der Folgen des eigenen Handelns sowie der Folgen von Umweltereignissen oder Handelns anderer Mitmenschen hat.

3. die Kompetenzerwartungen: die Selbsteinschätzung, mit einer problematischen Situation fertig zu werden.

Diese kognitiven Strukturen sind vergleichbar mit den Beurteilungsdimensionen nach H. Gräser, H. Esser & H. Saile (1995), die unter 3. aufgeführt wurden. Außerdem entsprechen diese Typen dem Konzept der Attribution und Kontrollüberzeugung.

Diese drei kognitiven Strukturen finden sich auch in dem 1990 von Krohne und Pulsack entwickelten ESI, Erziehungsstil-Inventar wieder, welches die vom Kind erlebte elterliche (mütterliche und väterliche) Erziehung in sechs Dimensionen erfasst: Unterstützung, Einschränkung, Lob, Tadel, Strafintensität und Inkonsistenz. Dieses Inventar soll, anhand der genannten Dimensionen des Erziehungsstils der Eltern, die Ausprägung der Konsequenz- und Kompetenzerwartungen und der Bewältigungskompetenzen des Kindes vorhersagen lassen.

Als Ergebnis dieses Tests wurde unter anderem herausgefunden, dass die Bewältigungskompetenz und die Kompetenzerwartungen des Kindes signifikant mit den Erziehungsstilen Unterstützung und Einschränkung, sowie Konsistenz und Lob korrelieren. Durch Lob und Konsistenz des elterlichen Verhaltens wird beispielsweise die Entwicklung einer internalen Kontrollüberzeugung gefördert, welche zu Bewältigungskompetenz und eigener Kompetenzerwartung führt. Das bedeutet, dass vom Kind liebevoll und bejahend erlebte Verhaltensweisen der Eltern, wie Lob und Unterstützung, die in für das Kind verlässlicher, zu erwartender Weise, gezeigt werden, die Kompetenz, eine Krise zu bewältigen, und auch die eigenen Erwartungen, ein Problem erfolgreich zu lösen, fördern und unterstützen.

Da diese Typen kognitiver Strukturen bzw. Attributionsstile oder Beurteilungsdimensionen eine wichtige Vorraussetzung zur Krisenbewältigung sind, kann man abschließend sagen, dass personale Faktoren, welche die Chance einer erfolgreich bestrittenen Krisensituationen erhöhen, in der Kindheit durch die Erziehung der Eltern und die sozialen Erfahrungen gebildet werden.

Quelle: http://www.krise-als-entwicklungschance.de/